Wahrheit? Was soll das sein? – Leben wir im „postfaktischen Zeitalter?

Gedanken zu Benedikt Narodoslawsky, „Wahrheit, nein danke!“ (Falter 39/16)

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Es gab also dereinst das „faktische Zeitalter“, als der Mensch sich an der Wahrheit orientierte. In der Antike oder während der Aufklärung. Erleuchtet von der Wirkung der Fakten entschied sich der Mensch vernünftig. Und alles war gut.

Aber heute! Heute leben wir postfaktisch, in der „Nichtwissenwollengesellschaft“ und folgen allein den Gefühlen.

So verläuft der aktuelle pessimistische Diskurs über die postfaktische Gesellschaft. Vielleicht schaden in einer Debatte über Fakten ein paar Fakten nicht:
Menschen sind keine „rational actors“. Diese wesentliche philosophische Annahme ist kognitionswissenschaftlich widerlegt. Menschen orientieren sich weniger an Fakten als an ihren Werten. Sie erfassen die Welt vermittelt durch Frames und haben inkonsistente, manchmal konfuse Weltbilder. Eine Wirklichkeit, die alle Menschen auf diesem Globus teilen, existiert quasi nicht.

Weniger aus „cognitive ease“, weniger weil „wir jene Fakten lieber ignorieren, die unser Hirn anstrengen würden.“ Diese moralische Interpretation erweckt den Eindruck, dass wir uns bloß anzustrengen bräuchten, die objektiven Fakten zu verstehen. Der Vorwurf der Denkfaulheit steht da mit erhobenem Zeigefinger im Raum. Tatsächlich geht es weniger um Wollen: Das menschliche Gehirn lässt Fakten, die nicht den eigenen Frames entsprechen, einfach abprallen. Faulheit? Neuronen!

Ja, die FPÖ „schlachtet jede Nachricht über Straftaten (…) von (…) Asylwerbern aus.“ Und erfolgreich „suggeriert sie damit einen Ausnahmezustand.“ Was daran ist neu oder gar postfaktisch? Der Schlüsselbegriff lautet „salient exemplars“, herausragende Beispiele, die dermaßen betont werden, dass sie zu einer eigenen Wahrheit werden können. Die Wahrscheinlichkeit, bei 6 aus 45 den Sechser zu erraten, liegt bei 0,0000123 Prozent. Mediale Aufmerksamkeit bekommen allerdings nicht die zigtausend Spielsüchtigen in Österreich (=eher wahrscheinlich, selbst betroffen zu sein) sondern die LottogewinnerInnen (höchst unwahrscheinlich, selbst betroffen zu sein). Zur Wahrheit wird der wahrscheinliche Gewinn. Neu? Postfaktisch? Nein, menschlich. So funktionieren unsere Gehirne.

Ja, wir können von der FPÖ lernen. Keine andere Partei spricht ihre Klientel besser an. Weil sie sich sehr früh gekonnt der neuen Medien bedient hat und weil man schon unter Jörg Haider verstanden hat, dass Menschen eben keine „rational actors“ sind. Dass wir in einer Zeit leben, in der Bindungen erodieren und Vertrauen zerbricht. Subjektive Glaubwürdigkeit wird zu einem wesentlichen Faktor. Diese Glaubwürdigkeit hat die Politik in den vergangenen Jahrzehnten sehenden Auges verspielt. Ein Vorwurf, den sich wohl alle Parlamentsparteien gefallen lassen müssen. Politik ist das Erklären und Gestalten der Welt. Es wäre höchste Zeit, diesen Raum nicht mehr der FPÖ zu überlassen!